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NEULAND : Fragen an Herrn ZINGG- Aurelie L

NEULAND : Fragen an Herrn ZINGG- Aurelie L
  1. Warum haben Sie sich für diesen Beruf entschlossen? Eigentlich wollte ich gar nie Lehrer werden. Nach meinem Studium wäre ich am liebsten als Lektor zu einem Buchverlag gegangen. Aber ich fand keine Stelle. In dieser Situation konnte ich eine Lehrerstelle antreten, die auf ein Jahr befristet war. Die Arbeit mit jungen Menschen hat mir vom ersten Augenblick an aber so gut gefallen, dass aus diesem einen Jahr in der Zwischenzeit 32 Jahre geworden sind...
  2. Seit wann üben Sie diesen Beruf aus? Lehrer bin ich seit 1983, die Arbeit, die im Film gezeigt wird, übe ich seit 1991 aus. Die Schule selbst gibt es seit 1990.
  3. Wie haben Sie reagiert, als man Sie gefragt hat, ob Sie einen Film über Ihre Schule drehen könnten? Haben Sie lange überlegt? Schon viele Jahre vor der Anfrage habe ich mir gedacht, dass einmal eine meiner Klassen filmisch begleitet werden sollte, um das negative Image, das Ausländer und Ausländerinnen in grossen Bevölkerungsschichten haben, zu korrigieren. Anna Thommen, die Regisseurin, hat aber nichts von meinem Wunsch gewusst. Als sie mich angefragt hat, musste ich nicht lange überlegen. Innerhalb von einer Zehntelssekunde habe ich zugesagt. Wenn ich dort schon gewusst hätte, was alles auf uns zukommt, hätte ich vielleicht 10 Sekunden überlegt
  4. Interessieren Sie sich für die Fortschritte der Schüler nach der Schule? Auf jeden Fall. Wenn ich Ehemalige treffe, ist meine erste Frage immer: „Was machen Sie jetzt?“ Oft melden sich die Ehemaligen aber auch bei mir, vor allem, wenn sie ein Diplom geschafft haben. So kenne ich den Weg von vielen Schülerinnen und Schülern, zum Teil während Jahrzehnten.
  5. Was haben Sie an der Uni studiert? Germanistik (deutsche Literatur und Sprachwissenschaft), neuere allgemeine Geschichte, Schweizergeschichte und Geschichte des Mittelalters sowie ein Jahr lang auch Psychologie
  6. Warum machen Sie diesen Beruf? Was sind Ihre Motivationen? Ich empfinde meinen heutigen Beruf als Privileg. Ich darf jeden Tag eine Weltreise machen und lerne dabei die verschiedensten Kulturen, Religionen, Weltanschauungen und Denkweisen kennen. Ich treffe jeden Tag junge Menschen, die in ihrem kurzen Leben ungeheuerliche Dinge erleben und überstehen mussten, Dinge die ich selbst meinem schlimmsten Feind nie wünschen würde. Diese Menschen aber strahlen eine unglaubliche Wärme und Herzlichkeit aus; das schwere Leben hat die meisten nicht bitter oder böse, sondern stark, liebevoll und immer auch wieder fröhlich gemacht. Ich habe eine grosse Achtung vor meinen Schülerinnen und Schülern und deren Kraft. Meine Klassen motivieren mich täglich, indem sie mir so viel Vertrauen, Dankbarkeit, Fröhlichkeit und Wärme zurückgeben.
  7. Wie können Sie einem Jugendlichen erklären, der seine Heimat nicht freiwillig verlassen hat, dass er sein Zuhause vielleicht nicht mehr sehen wird? Das ist eine wirklich gute Frage, die mir zeigt, dass Sie sich in die Situation junger Migrantinnen und Migranten sehr gut einfühlen können! Das Nichtmehrzurückkönnen ist immer wieder ein Thema im Unterricht und in persönlichen Gesprächen. Am Anfang der Schulzeit möchten etwa drei Viertel der Jugendlichen sofort wieder zurück in die Heimat, selbst wenn dort schlimme Zustände herrschen. Denn dort ist ihr Herz, dort sind ihre Verwandten und Freunde, Freundinnen. Das Heimweh ist unermesslich gross. Mit der Zeit gewöhnen sich die jungen Menschen hier ein. Sie sehen, dass das Leben hier auch Vorteile bietet und dass einiges besser läuft als in ihrer Heimat. Selbst Schülerinnen und Schüler, die in den Ferien nach Hause fahren können, erzählen mir oft, dass sie sich in der eigenen Heimat fremd zu fühlen beginnen. Mit den alten Freundinnen und Freunden gibt es keine gemeinsamen Themen mehr, weil deren Leben anders gelaufen ist als das eigene. Die geliebte Grossmutter ist gestorben. Dazu kommt die Erkenntnis, dass das Leben in unserem Wohlstand auch viele Vorteile hat. So kommen die meisten Jugendlichen früher oder später selber zur Erkenntnis, dass eine Rückkehr in die Heimat nicht mehr möglich sein wird. Dies ist ein schmerzlicher Prozess. Denn das Heimweh nach der verlorenen Heimat bleibt und in der neuen Heimat sind sie noch nicht zu Hause, werden es vielleicht das ganze Leben nie wirklich sein. Auf der anderen Seite können sich die Immigrantinnen und Immigranten aber zwischen zwei Kulturen bewegen und daraus die guten Teile für sich nutzbar machen. Darum beneide ich manchmal meine Jugendlichen. Hat die Lebensgeschichte eines Schülers, einer Schülerin sie besonders persönlich sehr berührt? Im Laufe der Jahre habe ich so viele berührende und unglaubliche Geschichten gehört, dass es unfair wäre eine einzelne herauszugreifen. Sie dürfen aber sicher sein, dass mein Herz voll ist mit bewegenden und tief berührenden Schicksalen, aber auch voll mit Bewunderung, wie Menschen in schwierigsten Situationen aufrecht, stark und integer bleiben. Und ein klein bisschen ist da auch die Freude, diesen Menschen auf einem kurzen Abschnitt in ihrem Leben ein bisschen geholfen zu haben.
  8. Haben Sie noch Kontakt zu ihren ehemaligen Schülern? Ja, es gibt immer wieder Kontakte. Natürlich gibt es Schülerinnen und Schüler, die ich nach dem letzten Schultag nie mehr sehe. Zu anderen bleibt aber ein Kontakt bestehen, der manchmal viele Jahre lang dauern kann. Ich bekomme immer wieder Besuch von Ehemaligen. Einige brauchen meine Hilfe bei einer Bewerbung für eine Stelle, bei Prüfungsvorbereitungen, bei der Wohnungssuche oder bei Fragen der Niederlassungsbewilligung oder der Einbürgerung. Andere kommen nach Abschluss der Lehre, um mir voller Stolz das Berufsdiplom zu zeigen. Wieder andere kommen einfach so zu Besuch. Und für einige bin ich noch jahrelang der Onkel, dessen Nähe sie suchen und brauchen. Manchmal treffe ich Ehemalige nach Jahrzehnten auf der Strasse. Sie kommen immer auf mich zu, erzählen, wie ihr Leben verlaufen ist, zeigen mir Fotos von ihrer Frau und ihren Kindern. Und kürzlich hat mich ein junger Mann sogar auf offener Strasse umarmt! So habe ich viel Kontakt zu Ehemaligen, wobei zu bedenken ist, dass eher diejenigen zu mir kommen, die Erfolg in ihrem Leben gehabt haben. Das kann trügerisch sein, dann nämlich wenn ich mir einbilde, ich hätte allen meinen Schülerinnen und Schülern auf dem Weg zu einem guten Leben helfen können.
  9. Sind die meisten Schüler wirklich so motiviert, wie man es im Film sieht? Die Schülerinnen und Schüler sind durchschnittlich sicher besser motiviert als Jugendliche, die in der westlichen Welt gross geworden sind und immer schon alles hatten. Viele Jugendliche unserer Schule begreifen, dass sie neben allen Verlusten, die sie erlitten haben, hier auch eine grosse Chance für ein gutes Leben erhalten. Deshalb sind sie meistens gut motiviert. Daneben dürfen wir aber nicht vergessen, dass das ganz normale junge Menschen sind, die ebenso gerne in Facebook und Instagram sind, die ebenso gerne Champions Ligue Spiele sehen, die auch Freude an Schuhen, Taschen und schönen Kleidern haben wie wir auch. Sie verlieben sich, haben Liebeskummer, sie haben Probleme mit den Eltern, Streit mit Kolleginnen oder Kollegen. All dies lenkt sie genauso ab wie uns auch. So sind manchmal private Angelegenheiten, Vergnügungen oder einfach die Bequemlichkeit grösser als die Lust für die Schule zu arbeiten.
  10. Welche waren und sind Ihre schönsten Erinnerungen? Ach, da kommen mir so viele wunderschöne Erinnerungen in den Sinn, Erinnerungen an grosse berufliche oder menschliche Erfolge, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, Erinnerungen an fast grenzenloses Vertrauen, Erinnerungen an gewonnene Kämpfe gegen ungerechte Schicksale, Erinnerungen an eigenständige, starke Lebenswege. Diese alle aufzuschreiben würde ein Buch füllen!
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